Helga König im Gespräch mit der diplomierten Sozialarbeiterin Andrea Bredenbröker

Liebe Andrea Bredenbröker, Sie sind diplomierte Sozialarbeiterin sowie Autorin und lassen Ihre Leser wissen, dass Sie ein Jahr in Kenia lebten, bevor Sie Ihr sozialwissenschaftliches Studium abgeschlossen haben. Auf Ihrem Twitterprofil weisen Sie darauf hin, dass Ihre Schwerpunkte: Sensibilität, Kreativität und Sozialphilosophie sind. Folgt man dem in Ihrem Profil eingefügten Link, so gelangt man auf Ihre Website, wo man sich über Sie, Ihr Denken und Tun ein wenig kundig machen kann.

Helga König: Können Sie unseren Lesern kurz erläutern, was man unter dem Begriff Sozialphilosophie zu verstehen hat und worauf es Ihnen hierbei speziell ankommt?

 Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbröker: Die Sozialphilosophie, auch Gesellschaftsphilosophie genannt, beschäftigt sich mit Fragen zu einer Gesellschaft, ihrem Aufbau, ihren Strukturen sowie dem Verhältnis des Einzelnen zu ihr. In konkreter Hinsicht bedeutet dies, dass sie sich beispielsweise mit der Frage beschäftigt, wie sich Arbeitslosigkeit auf die Selbstachtung auswirkt, wie in  intimen Beziehungen Konflikte behandelt werden oder was Menschen spontan unter den Begriffen Ehre, Gerechtigkeit oder fairer Entlohnung verstehen (Spiegel, Ausgabe 36/2007). Die Ergebnisse werden in Beziehung zu dem gesetzt, was nicht nur der Horizont der berühmten Frankfurter Schule ist, sondern jeder Sozialphilosophie: Auch ohne Heidegger kann man es "das Eigentliche" nennen. 

Mir kommt es beim Thema Sozialphilosophie speziell darauf an, wie eine Gesellschaft auf den Einzelnen einwirkt, wie sich Normen- und Wertesysteme daraus ergeben können und gleichwohl, wie eine Gesellschaft am Beispiel des Holocausts entgleiten kann. Als junge Studentin wollte ich eine Magisterarbeit zum Thema Holocaust fertigen. Sie trug den Titel "Zur Bedeutung des Holocausts auf die jüdische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung sogenannter Holocaust-Philosophen". Am Ende musste ich feststellen, diesem Thema nicht in der von mir selbst erwarteten Weise gerecht werden zu können. Ich fühlte mich damals wie eine "solide Halbphilosophin" und gab mein Vorhaben auf. 

Heute sieht das anders aus: Ich hatte nachfolgend das Glück, letzte Zeitzeugen kennenzulernen. Vor diesem Hintergrund betrachte ich die derzeitige Entwicklung unserer Gesellschaft mit großer Besorgnis, da rechte Strömungen zunehmen. Es ist mir diesbezüglich ein großes Bedürfnis, mich einzumischen. Dies halte ich für "praktische Sozialphilosophie" im übertragenden Sinne.

 Helga König
Helga König: Wie definieren Sie Mitmenschlichkeit?

Andrea Bredenbröker: Diese Frage würde ich gerne mit einem Zitat des Dalai Lamas beantworten. "(...) für mich stellen Liebe und Mitgefühl eine allgemeine, eine universelle Religion dar. Man braucht dafür keine Tempel und keine Kirche, ja nicht einmal unbedingt einen Glauben, wenn man einfach nur versucht, ein menschliches Wesen zu sein mit einem warmen Herzen und einem Lächeln, das genügt." (Tenzin Gyatso, Dalai Lama XIV*1936) 

Helga König: Und was bedeutet für Sie Fairness? 

  Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbröker: In der Übersetzung bedeutet Fairness für mich, dass ich ein anständiges, ausgewogenes und moralisch gerechtes Verhalten ausübe. Selbstverständlich gelingt mir das nicht immer, aber in dieser Hinsicht perfekt sein zu wollen, käme wohl einem Größenwahn gleich. Ich bin eben nur ein Mensch. Wenn ich im Alltag beobachte, dass an sich sozial geschwächte Personen nach Unten treten, dann macht mich das sehr wütend. Neulich wurde ich z. B. Zeugin eines Vorfalls in einer Arztpraxis. Da verweigerte ein ungepflegter, nach kaltem Nikotin müffelnder Mann einer alten und gebrechlichen, türkischen alten Dame den Sitzplatz mit den Worten:"Nö, ich bremse lieber für Tiere!" Mein Puls schnellte hoch. Ich stellte der Dame meinen Sitzplatz zur Verfügung und schüttelte nur noch den Kopf über soviel Dummheit und Brutalität.

 Helga König
Helga König: Wenn man Ihre Retweets ein wenig studiert, erkennt man sehr rasch, dass Ihnen auch hier soziale Themen am Herzen liegen. Wir haben heute beide einen Tweet des Accounts "Kinderrechte" retweetet. Der Tweet lautet:"Etwa jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf." Was dachten Sie spontan als Sie diesen Tweet gelesen haben und weshalb wollten Sie ihn ihren Followers zugänglich machen?

Andrea Bredenbröker: Auch ich bin in einer suchtbelasteten Familie aufgewachsen, gleichsam wie ein weißes Schäfchen unter reißenden Wölfen. Suchtthematik und borderlineartige Verhaltensstrukturen machten ein familientypisches Miteinander unmöglich. Es ist nur meiner kindlichen Resilienz sowie erkennenden Pädagogen zu verdanken, dass ich eine höhere Schulbildung einschlagen konnte/durfte. Wenn jedes 6. Kind in Deutschland in einer suchtbelasteten Familie aufwächst, dann ist das eine hohe Zahl, die bedenklich ist. Es wäre mittelfristig an der Zeit, suchtauslösende Faktoren wie z. B. Ausgrenzung und Chancenungleichheit zu eliminieren. Wenn Sie sich heute in Gymnasien umschauen, dann werden Sie kaum Schüler finden, die durch ihre Eltern suchtvorbelastet sind. Natürlich aber gibt es auch hier diverse Ausnahmen. Nur eine Verdeutlichung dieser Problematik kann aus meiner Sicht verhindern, dass diese betroffenen Kinder rasch marginalisieren und selbst Suchterkrankungen entwickeln. Das ist nun der Grund für meinen Retweet. Meine Follower sind in der Regel Multiplikatoren, die unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufen angehören. Sie tragen in die Welt, was sie von ihren Sympathisanten zu hören oder zu lesen bekommen. Und außerdem: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich! Damit kann ich leben:-).

Helga König: Haben Sie den Eindruck, dass sich Menschen im virtuellen Raum anders verhalten als im nicht virtuellen Leben und falls ja, welche Probleme sehen Sie als Diplom-Sozialarbeiterin für uns alle diesbezüglich?

  Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbroeker: Der virtuelle Raum stellt für mich durchaus auch eine Art von "Parallelwelt" dar, in der man sich ungehindert ausleben kann. Es gibt Menschen, die dort öffentlich ein bestimmtes Verhalten erproben, dieses jedoch nicht automatisch im Alltag umsetzen können. Daraus kann sich dann schlimmstenfalls eine Inkongruenz entwickeln, weil der Mensch in der Realität nicht macht, wovon er eigentlich überzeugt ist. Das merken dann andere Personen, die denjenigen dann falsch wahrnehmen und nicht mehr respektieren. Als Dipl.-Soz.arb. kann ich nur dafür werben, dass man den virtuellen Raum nicht überbewertet, sondern ihn als Plattform versteht, für neue Gedankenströme und neuzeitliche Entwicklungen. Denn wer nur ausschließlich in dieser "Parallelwelt" lebt, der scheitert im wahren Leben an eigenen Illusionen und verliert den Sinn für das Tatsächliche, Nächstliegende und Machbare.

 Helga König
Helga König: Ich teile mit Ihnen die Ansicht, dass es keine "Gutmenschen", sondern nur MENSCHEN gibt. Der Begriff "Gutmensch" ist meiner Einsicht nach eine Wortschöpfung von Zynikern. Wie reagieren Sie, wenn jemand seitens eines Zynikers als "Gutmensch" in Ihrer Anwesenheit abgewertet wird?

Andrea Bredenbröker: Wenn das passiert, reagiere ich entschieden, u. U. auch etwas ungehalten. Zyniker verstehen das für sich auszunutzen, weshalb ich mich darin trainiere, stringent bei meiner Linie zu bleiben. Wer ein MENSCH ist, erlebt in seinem Leben Höhepunkte und Tiefschläge. Ebensolchen nicht auszuweichen, sondern ihnen auch zu begegnen, erfordert Mut, manchmal sogar Demut. Wer auf diese Erfahrungen zurückgreifen kann, der unterscheidet sich signifikant von einem Zyniker! Dieser hat es nötig, seine Persönlichkeitsdefizite an Menschen auszulassen, die ihm den Spiegel vorhalten. So entsteht der Begriff "Gutmensch". Wer in meiner Gegenwart Opfer eines Zynikers werden soll, der darf auf meine unbedingte Unterstützung zählen!

Helga König: Was sollten User in den sozialen Netzwerken nach Ihrer Ansicht als studierte Sozialarbeiterin unternehmen, wenn Sie sehen, dass jemand dort extrem gemobbt wird?

  Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbröker: Im Sinne einer Verantwortungsethik ist man als autonomes Subjekt nicht nur für seine Handlungen verantwortlich, sondern auch für deren Unterlassung. Unterlassung ist m. E. n. ein spezieller Fall unmoralischen Handelns. Zunächst einmal halte ich es für außerordentlich wichtig, den Betroffenen darauf hinzuweisen, dass es ein Bündnis gegen Cybermobbing gibt. Geht man auf diese Website, so erfährt man, was konkret dagegen unternommen werden kann. Hier ein paar Auszüge davon:

 -Cool bleiben. Nichts an Dich heranlassen und keine Selbstzweifel haben, denn: Du bist o.k., so wie Du bist!
-Sperre den Cyber-Bully! Die meisten Anbieter geben Dir die Möglichkeit, jemanden, der Dich verleumdet oder kränkt, zu sperren oder zu melden. Beweise sichern. Durch Screenshots Kopien von Fake-News oder Online-Gespräche machen. Und nicht zuletzt: Die Polizei informieren! Es gibt viele Straftatbestände, die ein Teil von Cybermobbing sind. Cybermobbing selbst ist kein fester Strafbestand. Beispiele dafür sind nach dem Jugendgerichtsgesetz folgende Paragraphen: §185 Beleidigung, §186 Üble Nachrede, §187 Verleumdung sowie weitere. Im Erwachsenenstrafrecht verhält es sich ähnlich, wobei dort mit härteren Sanktionen zu rechnen ist. Einzusehen bei www.polizei-beratung.de 

Das aktive Eingreifen gegen Cybermobber verstehe ich als NETZCOURAGE. Dies sollte das Anliegen aller friedliebender User sein!

Helga König: Gestern las ich in Facebook seitens eines Trolls nachstehende Androhung: "Fordere die Internettrolle nicht heraus. Die Macht ist mit uns." Woher kommt diese Dreistigkeit der Trolle und wie könnte man ihr sinnstiftend Einhalt gebieten? 

 Helga König
Andrea Bredenbröker: Die Dreistigkeit der Trolle rührt m. E. n. daher, dass es sich um Menschen mit sozialen Phobien handelt. Dies bedeutet, dass sie sich im realen Leben nicht zurecht finden und zumeist aus Angst vor dem Versagen ihren Mitmenschen aus dem Weg gehen. Ihre Persönlichkeitsdefizite sind dabei so ausgeprägt, dass sie Internetforen oder andere soziale Netzwerke dringend benötigen, um sich selbst über die Beleidung anderer Menschen spüren zu können. Ihre Geltungssucht kennt dabei keine Grenzen. "Don´t feed the trolls", lautet ein unter Netznutzern weit verbreitetes Motto (zu Deutsch: "Füttere die Trolle nicht!"). In der Übersetzung ist hier gemeint, die verbalen Angriffe von Trollen schlicht zu ignorieren, was wohl zuweilen leichter gesagt als getan ist. 

Ziel aller Trolle ist die Provokation. Verteidigungsversuche oder jedwede Form von Kontra-Geben oder Thematisierung bleiben ohne Ergebnis, im Gegenteil: Sie stellen das Futter für alle Trolls dar! Nun kennen wir verschiedene Arten von Trollen, wie z. B. Spam-Trolls, Cranks oder sogenannte Hater. Allen ist gemeinsam, dass sie innerhalb einer Community agieren. Das gibt ihnen ein gutes Gefühl und vermittelt ihnen eine zweifelhafte Solidarität untereinander. Meine Empfehlung ist es, sie möglichst kurzfristig über den Anbieter sperren zu lassen, um ihnen die Angriffsfläche zu entziehen. 

Helga König:Welche Empfehlung können Sie Hochsensiblen an die Hand geben, um mit den mannigfaltigen Eindrücken im Netz relativ entspannt umgehen zu können? 

  Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbröker: Da ich mich selbst für eine HSP (High-Sensivity-Person) halte, erlaube ich mir, Ihnen aus meiner persönlichen Erfahrung heraus zu antworten. Mit Beginn des Internetypes vor mehr als 20 Jahren musste ich es erst langsam erlernen, mich sehr dosiert in diesem Medium zu bewegen. Tat ich das nicht, war ich total reizüberflutet. Es folgten Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Ich rate anderen Hochsensiblen, stets genügend Abstand zu wahren. Dazu gehört die Einsicht, dass das Internet nur einen kleinen Auszug unserer Gesellschaft darstellt. Wer sehr mitfühlend ist, sollte sich zudem vor Gewaltvideos schützen wie sie im Internet kursieren. 

 Helga König
Helga König: Sind die sozialen Netzwerke Ihrer Ansicht nach ein Medium, wo man seine Kreativität in gewisser Weise ausleben kann? 

Andrea Bredenbröker: Der Nutzer sozialer Netzwerke ist ein Mensch, der sich durch ein Profil selbst darstellt, Beziehungen zu anderen aufbaut und dies öffentlich zeigt. Er positioniert sich in Netzwerken wie z. B. Facebook oder Twitter, um in Kontakt mit Gleichgesinnten zu kommen, die seine Interessen, Ansichten oder Überzeugungen vertreten oder negieren. Manchmal kommt es zu einer Vernetzung von Personen, die ein gleiches Ziel verfolgen. Durch dieses soziale Miteinander kann man sich gegenseitig "befruchten" und neue Ideen entwickeln. Dies ist ein Ausleben verschiedenster kreativer Strömungen, die hier sehr speziell durch interaktive Impulse zustande kommen können. 

Helga König: Sie haben u. a. in diesem Jahr folgenden Tweet retweetet: "In all den Jahren Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen sämtlicher Couleur ist mir übrigens nie jemand begegnet, der von seinen Eltern "zu sehr verwöhnt" wurde." Weshalb wollten Sie diese Worte Ihren Followers zugänglich machen? 

  Andrea Bredenbröker
Andrea Bredenbröker: Ich halte es für ein Klischee, wenn z. B. gut situierten Personen mit psychischen Schwierigkeiten vorgeworfen wird, dass sie von ihren Eltern offensichtlich zu sehr verwöhnt wurden und sie aus diesem Grunde "lebensuntüchtig" seien oder mit ihrer "Langeweile" nicht umzugehen wüssten. Dieses Klischee trifft oft auch Kinder sogenannter "Helicopter-Eltern". Sie kontrollieren ihre Kinder auf Schritt und Tritt, ermöglichen ihnen einerseits alles materiell erdenkliche, aber sprechen ihnen andererseits jede Eigenverantwortung ab. Eine Individualisierung wird so verhindert statt gefördert. Dies kann zu Zwangsverhaltensweisen, Magersucht oder anderen Persönlichkeitsstörungen führen. Durch Artikulierung des benannten Klischees sind Betroffene doppelt bestraft. Meine Follower werden dafür sorgen:), dass es "abgeschafft" gehört und weitere Menschen für das Thema sensibilisiert werden. 

Helga König: Und schlussendlich: Was können Menschen in den sozialen Netzwerken voneinander lernen? 

Andrea Bredenbröker: Wer sich nach seinen eigenen Möglichkeiten gesellschaftlich einbringt, erfährt eine Zunahme von sozialen Kontakten. Gleichwohl bieten soziale Netzwerke auch die Möglichkeit, Menschen verschiedenster Herkunftsländer und kulturelle Unterschiede kennenzulernen. Dies fördert im Besten Sinne Toleranz und Völkerverständigung. Wo Menschen miteinander kommunizieren, entstehen Kräfte und Lernprozesse, die sowohl im Einzelnen wie auch im Vielen Veränderungen zu schaffen imstande ist.

Liebe Andrea Bredenbröker,  herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch

Ihre Helga König

Anbei der Link zur Website von Andrea  Bredenbröker:http://www.sozialphil.de/

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